Die Linke hat beim Rassismus versagt

Große Teile der griechischen Bevölkerung leiden unter der Wirtschaftskrise und Austeritätspolitik. Dagegen formiert sich politischer Widerstand. Alessandro Volcich hat für progress online mit Stoyan, einem Aktivisten der athenischen Antifa Negative, darüber gesprochen.


progress online: Du bist Mitglied der Gruppe Antifa Negative. Ihr kritisiert andere griechische linke Gruppen für ihre Haltung gegenüber dem Rassismus. Könntest du eure Kritik etwas ausführen?

Stoyan: Die antiautoritäre und anarchistische Szene geht gegenüber MigrantInnen und der Frage des Rassismus mit einer altmodischen Klassenanalyse vor. Sie solidarisieren sich mit MigrantInnen nicht weil sie Opfer rassistischer Staatspolitik oder nazistischer Gewalt sind, sondern weil sie als ArbeiterInnen gelten. Und das sind noch die vernünftigeren. Andere solidarisieren sich mit MigrantInnen in keinster Weise. Das alles war für uns erstickend, weil wir glauben, dass es genügt, Opfer rassistischer Gewalt zu sein, um unterstützt zu werden.


Kannst du mir ein Beispiel nennen, wie die Linke beim Rassismus versagt hat?

Im Jahr 2004 gewann die griechische Fussballnationalmannschaft die UEFA EURO. Kurz danach gab es ein Match zwischen der griechischen und der albanischen Nationalmannschaft und die albanische gewann. Darauf kam es in ganz Griechenland zu Angriffen gegen Menschen, die man für AlbanerInnen hielt. Es gab viele Verletzte und sogar einen Mord. Die Antwort der Mainstream-Linken, der heutigen Syriza, war eine Demo mit der Parole: „Griechen sind keine Rassisten”. Die AnarchistInnen hingegen marschierten unter dem Motto:  „Wir sind gegen beide Nationalismen, den griechischen und den albanischen”. Aber das hatte mit der Situation nichts zu tun. Denn es gab ja keinen Konflikt zwischen zwei Armeen, sondern einer Welle rassistischer Gewalt.


Und das war noch vor der Wirtschaftskrise.

Es war gleich nach den Olympischen Spielen, zur Zeit eines Konjunkturhochs.


Kommen wir zur aktuellen Situation. Wie entwickelten sich in den letzten Jahren die Reaktionen auf die Wirtschaftskrise?

Als Griechenland den Deal mit dem IWF abschloss, das „Memorandum”, gab es eine Protestbewegung im ganzen Land. Dabei kam es überall – am Syntagma-Platz in Athen war es besonders deutlich – zu dem, was man den „oberen” und „unteren Platz” nannte. Am oberen Platz, gleich vor dem Parlament, standen die Nazis und andere rechte Spinner mit Griechenlandfahnen und brüllten antisemitische Parolen, dass Giorgos Papandreou (ehemaliger Premier, Anm.) Jude sei. Auf der unteren Seite stand die Linke, die des Mainstreams und die radikale, und hielt Reden über direkte Demokratie. Und sie alle standen da friedlich Seite an Seite – während gleichzeitig im Zentrum Athens ein Pogrom gegen MigrantInnen stattfand. Das ist symptomatisch für die Reaktion der griechischen Gesellschaft auf die Krise, dass es heute keine Trennlinien mehr zwischen den Griechen gibt. Nun vergessen wir rechts und links. Ich weiß nicht, ob das je etwas bedeutet hat – heute tut es das jedenfalls nicht mehr. Die Opposition verläuft heute zwischen der leidenden griechischen Bevölkerung und den Verrätern, die die Maßnahmen des IWF unterstützen. Es ist eine populistische Hysterie.


„Goldene Morgenröte ist die griechische Hisbollah”

Wie hat die neonazistische Goldene Morgenröte (Chrysi Avgi) es geschafft, politisch aufzusteigen?
Es gibt sie seit 1980 und sie waren eine marginale Nazi-Gruppe. Sie haben einige militante Aktionen gemacht, wie Angriffe auf AntifaschistInnen oder MigrantInnen. Wobei während der 1990er und 2000er Jahre rassistische Morde meist nicht von Chrysi Avgi verübt wurden, sondern von normalen Griechen. Chrysi Avgi waren schwach und bekamen 0,0-irgendwas bei den Wahlen. Bei den Syntagma-Protesten intervenierten sie wie jede politische Gruppe es bei einer sozialen Bewegung machen würde. Und da wurden sie zum ersten Mal der Durchschnittsbevölkerung bekannt. Danach erhielten sie gute Wahlergebnisse und kamen ins Parlament.


Wie reagierten die anderen politischen Kräfte auf
den Aufstieg der Chrysi Avgi? Immerhin eine offen antisemitische und rassistische Partei.
Das erste, was alle sagten war, dass ihre WählerInnen vom politischen Establishment enttäuscht waren und keine Nazis sind. Die Linke versuchte zum einen darauf hinzuweisen, dass sie gewalttätig wären. Das war sinnlos, denn damit übernahmen sie die Propaganda der Chrysi Avgi und beförderten ihr Image als brutale, unbesiegbare Kraft. Oder aber sie sagten, dass Chrysi Avgi keine echten Patrioten wären. Die konservativen und Zentrumsparteien sagten, dass die Chrysi Avgi es geschafft hätte, Antworten auf die Probleme der Leute zu geben, wie die illegale Migration und Kriminalität. Und deshalb müsse man so wie die Chrysi Avgi werden, damit sie nicht mehr gewählt werden. Ein Mitglied der sozialistischen Pasok, Andreas Loverdo (Anm.: ehemaliger Gesundheitsminister) sagte, dass Chrysi Avgi sei die erste Volksbewegung seit 30 Jahren und sie sei die „griechische Hisbollah”, was für ihn etwas Gutes sei. Das ist nichts ungewöhnliches, die griechische sozialistische Partei hat eine lange Geschichte des Antisemitismus.


Erst nach dem Mord durch zwei Mitglieder von Chrysi Avgi an einem Griechen, dem Antifaschisten und Rapper Pavlos Fyssas, scheint Chrysi Avgi eine rote Linie überschritten zu haben, denn die Regierung griff danach hart durch, verhaftete einige Parteimitglieder, Parlamentsabgeordnete und sogar ihre Führung. Wie siehst du die Rolle des Staats als „Antifa”?

Während sie mit der einen Hand das machen, verrichten sie mit der anderen die Arbeit der Chrysi Avgi. Gleich nach den Verhaftungen führte die Polizei riesige Schleierfahndungen im Zentrum Athens durch und verhafteten jeden, der nicht griechisch genug aussah. Um die zwanzig Prozent hatten keine Papiere. Man kann von einer terroristischen Operation sprechen. Sie haben auch Romasiedlungen überfallen, um zu zeigen, dass auch der Staat damit umgehen kann. Der Antiziganismus war hoch oben auf der Agenda der Chrysi Avgi. In Thessaloniki hatte man Transfrauen massenweise unter dem Vorwand illegaler Prostitution verhaftet.


„Sie haben Merkel zum Symbol gemacht”

Nun zur linken Partei Syriza. Sie versteht sich selbst als “Koalition der radikalen Linken”. Wie radikal ist sie wirklich?
In ihrem Verständnis bedeutet Radikalismus, gegen die vom IWF auferlegten Maßnahmen zu sein und sie spielen mit einer Anti-EU-Rhetorik. Einer ihrer Flügel möchte auch aus der EU austreten, aber das ist nicht Parteilinie. Meistens sind sie etwas zweideutig und sagen, sie wollen in der EU bleiben, aber ohne IWF-Maßnahmen. Und sie bedienen sich Slogans wie: „Wir stehen einer neuen deutschen Besatzung bevor”. Sie haben also keine klassische Klassenanalyse, sondern eine populistische, die den Bänkern vorwirft, nichts zur Wirtschaft beizutragen und Instrumente der deutschen Regierung zu sein. Sie haben dabei Merkel zum Symbol gemacht, oft auch mit sexistischen Untertönen.


Slavoj Zizek, ein Fan von Syriza, hat ihrem Vorsitzenden Alex Tsipras sogar den Rat gegeben, sich mit der „patriotischen Bourgeoisie” zu verbünden.

Aber das ist ja schon längst in ihrem Programm! Das schlimmste war, als es Gespräche zwischen Syriza und den Unabhängigen Griechen (Anel), eine rechtspopulistische Partei, gab. Beide sind gegen den IWF und die EU. Tsipras hat sich mit Panis Kammenos, dem Vorsitzenden der Anel, getroffen und es war die Rede davon, eine Koalition bilden zu können – was unheimlich wäre. Die Anel sind der rechte „lunatic fringe”. Das sind Leute, die in diese Chemtrails-Verschwörungen glauben und dass George Soros die Wirtschaft kontrolliert.


Und so eine Koalition würde bei der Basis durchgehen?

Syriza war einmal eine sehr kleine linke Partei. Vor der Krise wurden sie von einigen Radikalen gewählt, weil sie sympathische Positionen hatten, wie beispielsweise gegenüber dem Zwang zum Militärdienst. Als sie so schnell viele Stimmen bekamen, haben sie alles auch nur entfernt Progressive aufgegeben. Anfang diesen Jahres gab es einen Skandal um Theodoros Karypidis, einem Kandidaten Syrizas zu den Lokalwahlen. Die Vorgeschichte war die kürzliche Restrukturierung des öffentlichen Fernsehens. Man hat alle TV-Stationen geschlossen, jede und jeden entlassen und einen neuen Kanal mit dem Namen NERIT mit neuem Personal eröffnet. Karypidis postete auf Facebook, wie NERIT vom hebräischen Ner, der Kerze zu Hannukah, stammt und wie die Juden zu Hannukah ihren Hass gegen die Griechen feiern würden. Er war aber schon davor antisemitisch aufgefallen und Syriza hat ihn trotzdem nominiert. Es gab dann eine interne Auseinandersetzung über seine Absetzung, bevor man es am Ende dann doch tat. Um noch eins drauf zu setzen, veröffentlichte man einen Artikel in der parteieigenen Zeitung Avgi, wo man dem American Jewish Committee, das über den Vorfall berichtete, verboten hatte, sich in interne griechische Angelegenheiten einzumischen.


„Jüdische Mörder”

Welche Rolle spielt denn der Antisemitismus in Griechenland generell?
Vor ein paar Tagen (am 25.3., Anm.)  feierte man den Nationalfeiertag der Unabhängigkeit Griechenlands vom Osmanischen Reich. Bei dieser Gelegenheit wird die Hymne gesungen, die das Gedicht eines nationalistischen Dichters der Zeit ist. Darin wird das Massaker an Juden und Muslimen von Tripoli gefeiert. Der Antisemitismus ist schon alt und wird generationsweise weitergegeben. Als Christine Lagarde vom IWF sagte, dass sie eine Liste von griechischen Millionären habe, die ihr Geld unversteuert in die Schweiz gebracht hätten, war das erste was Evangelos Venizelos, dem Vorsitzenden von Pasok, in den Sinn kam, dass die ersten paar Namen der Liste Juden seien.


Ist es generell so, dass sich der Antisemitismus unverblümt äußert, man also nicht den Umweg über Israel oder irgendwelcher Codes zu nehmen braucht?

In Griechenland ist der Antisemitismus noch nicht so tabuisiert wie in anderen europäischen Ländern. Es treten beide Formen auf. Wobei Linke die versteckte Form bevorzugen, aber nicht ausschließlich. Während der israelischen Intervention im Libanon veröffentlichte die „Neue linke Strömung”, NAR, auf der Titelseite ihrer Zeitung das Bild eines Vaters mit seinem angeblich von israelischen Truppen getöteten Sohn. Die Bildunterschrift dazu war: „Jüdische Mörder, dafür werdet ihr bezahlen”.

Inmitten von all dem, wie sieht da eure, also Antifa Negatives, Praxis aus?

Es ist eine schwierige und pessimistische Situation. Wir sind wenige und nicht sehr beliebt. Wir führen öffentliche Debatten, versuchen uns und andere zu bilden. Wir haben auch eine Broschüre über Homophobie und Antifaschismus herausgebracht. Mit anderen Gruppen, mit denen wir eine gewisse gemeinsame Basis haben, machen wir Demos in Nachbarschaften, wo es ein Naziproblem oder besser, ein griechisches Problem gibt. Für uns soll Kritik keine Kompromisse eingehen.

 

Das Interview wurde am 27.3. auf Englisch geführt und anschließend vom Autor ins Deutsche übersetzt. Alessandro Volcich lebt in Wien und publiziert gelegentlich.

http://www.progress-online.at/artikel/die-linke-hat-beim-rassismus-versagt